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Wie Corona den Bundestagswahlkampf auf den Kopf stellen kann

Zur Bundestagswahl führen zwei unaufhaltbare Szenarien, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Welches davon eintritt, könnte über die nächste Bundesregierung entscheiden.

In den nächsten Wochen werden in allen Parteien Entscheidungen getroffen, die sich erst in den letzten Wochen des Wahlkampfes ausspielen. Wir sind in der strategischen Phase der Bundestagswahl.

Aber dieses Jahr ist besonders. Ein paar Monate vor der Wahl operieren die Parteien zwar immer mit einer gewissen Unsicherheit. Man weiß z. B. nie exakt, was die anderen Parteien planen und manchmal kommt auch noch eine Flut dazwischen.

Aber nie mussten Parteien einkalkulieren, dass es zur Wahl zwei so grundverschiedene Stimmungen in der Breite der Bevölkerung geben könnte.

Die zwei Szenarien

Als politische Lage sind folgende Szenarien denkbar:

  • Szenario 1: Corona scheint im August in Deutschland unter Kontrolle.
  • Szenario 2: Corona wird im August weiter als akute Bedrohung wahrgenommen.

Die politischen Szenarien lassen sich im Gegensatz zu den pandemischen mit all ihren Schattierungen und Restrisiken recht holzschnittartig zusammenfassen. Wir haben im letzten Spätsommer erlebt, wie schnell wir zwischen den Szenarien wechseln. Wie kurz die Übergangsphase ist.

Ich kann das auf den ersten Blick in meinen Chat-Gruppen ablesen, es geht aber auch weniger anekdotisch: Die Mobilitätsrate lag im August und September 2020 bereits über der aus dem Jahr 2019. Wir waren gedanklich in Szenario 1 angekommen, ohne dass es überhaupt einen Impfstoff gab.

Das wären in diesem Jahr exakt die Monate, in denen wir den nächsten Bundestag wählen.

Szenario 1: Corona scheint unter Kontrolle

Jedem Anfang, auch dem nach einer Pandemie, wohnt ein Zauber inne. Im ersten Szenario werden wir nachholen, was wir so lange nicht konnten. Man muss sich nicht bundesweit ekstatische Babylon Berlin Parties vorstellen, aber die Tendenz stimmt wohl. Die bürgerliche Variante bei Abendessen mit Freunden und Familie ist ja ähnlich, wenn auch weniger nackt.

Und bei diesen Feiern und gemeinsamen Essen werden wir nach anderthalb Jahren andauernder Bedrohung genug haben und den Blick nach vorne richten. Irgendwann ist genug gewarnt, die Ohren sind taub. Abnutzungseffekte beginnen langsam, schlagen aber sehr plötzlich durch. Was macht eigentlich Donald Trump?

In Szenario 1 dominiert das Leichte, das Nachlässige und der Aufbruch.

Szenario 2: Corona wir als akute Bedrohung wahrgenommen

Im zweiten Szenario wird die Bundestagswahl eine Abstimmung über die politische Reaktion auf das Covid-Virus. Andere Themen haben kaum Platz. Wie gut ist Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern durch die Pandemie gekommen? Wer wurde gerettet, wer nicht? Wer hat Verantwortung gezeigt? Wer hat Fehler gemacht? Und wem traue ich jetzt zu, mich ans Ende der Pandemie zu regieren?

Sollte die Pandemie nicht vorüber sein, werden sich viele Effekte, die wir jetzt schon beobachten können, verstärken. Eine immer stärkere sozioökonomische Spaltung birgt Protestpotenzial. Wir sind eben nicht alle gleich von der Pandemie betroffen und alle sehen das. Im schlimmsten Fall wird es irgendwann verlockend – mangels Handlungsalternativen – sich aus dieser Situation zur Bundestagswahl herauszuwählen: Wem traue ich zu, die Krise als beendet zu erklären?

In Szenario 2 dominiert das Aus- und Durchhalten, das Matte, die Verzweiflung und Abrechnung.

Die Aufstellung der Parteien

Aus den beiden Szenarien ergeben sich asymmetrisch verteilte Chancen und Risiken für die Parteien.

CDU

Das erste Szenario ist für die CDU ideal.

Laschet ist gut darin, Spaß zu zeigen, locker zu sein und ein herzlich sympathisches Angebot zu machen. Die SPD in Nordrhein-Westfalen hatte 2017 unterschätzt, bei wie vielen unterschiedlichen Menschen im Land das gut ankommt. Und wie viel eine gute Stimmung in einer Kampagne hilft.

Bernd Ulrich hat in der Zeit kürzlich einen kontra-intuitiven Punkt gemacht: Die aus progressiver Perspektive bräsig nervige Selbstzufriedenheit der CDU erschien vielen Menschen bisher als lockeres, fast cooles Politikangebot. In Szenario 1 könnte die CDU zurück zu diesem Politikstil finden und damit genau den richtigen Ton im ersten Szenario treffen.

Der eigentliche Homerun der CDU ist aber Folgendes: Ihr Versprechen war schon immer, die Bevölkerung nicht weiter mit Problemen zu belästigen und möglichst geräuscharm das Land zu verwalten. Wie attraktiv dieses Angebot von Ruhe und Normalität nach dem Ausnahmezustand wirken kann, sieht man z. B. an Joe Biden.

Szenario zwei wäre für die CDU eine Katastrophe. Laschet wird lauter als bisher gefragt werden, ob er gegenüber der Kanzlerin auf zu frühe Lockerungen gepocht hat und welchen Schaden das verursacht hat. Dazu gesellen sich genügend Einzelepisoden zum vermurksten Management in NRW, um das Thema wochenlang im Gespräch zu halten. Wenn das die Geschichte über die CDU zur Bundestagswahl wird, ist da noch sehr viel Luft nach unten.

In diesem Szenario wäre die CDU mit Söder etwas (!) besser aufgestellt. Sie muss sich aber für einen Kandidaten entscheiden, bevor klar wird, welches Szenario greift.

SPD

Drücken wir es mal hanseatisch aus: Olaf Scholz ist nicht der Inbegriff der Ekstase.

Aber jemand der einen sehr weiten Horizont (siehe z. B. Hoffnungsland: Eine neue deutsche Wirklichkeit) auf Politik aufmacht und Stimmungen in der Bevölkerung bereits erkennt, wenn medial gerade noch hektisch einsortiert wird. Beides kann zum ersten Szenario enorm wichtig werden.

Die SPD war bei Bundestagswahlen außerdem historisch stärker, wenn es zu Umbrüchen kam und schwächer, wenn es um Kontinuität ging. Darin liegt auch die Fixierung auf das Ende der Ära Merkel begründet. Wenn zu diesem Ende noch ein weiterer Neustart nach Covid kommt, kann das einer SPD mit einer gut formulierten Vorstellung von Zukunft nur nützen.

Ach, die Ironie im zweiten Szenario: Bis hier hin hatte sich die SPD immer gewünscht, auch mal von der Performance der Regierung zu profitieren. Auch weil Merkel aufhört, geht die Quittung für die Politik der letzten Jahre – und damit auch die der Reaktion auf Corona – wohl zum ersten Mal nicht automatisch an die CDU. Wenn die Regierung den Rückhalt in ihre Corona Politik verliert, wird es die SPD mittreffen.

Wie schwierig es für die SPD ist, sich gerade von der CDU abzusetzen, hat man sehr gut an der Kritik an der Impfstrategie gesehen. Es schallt sofort die Frage zurück, warum die SPD die Strategie denn mitgetragen hat. Beim Blame-Game streut sich die Verantwortung in einer Regierung auf einmal ganz breit.

Dafür hat die SPD im zweiten Szenario eine Aussicht, die sich der CDU nicht bieten wird: Wenn die CDU mit Laschets Krisenmanagement in Bedrängnis kommt, stellt die SPD mit Olaf Scholz für sehr viele Menschen eine stabile und sichere Alternative während einer Krise zur Wahl. Dann müsste die SPD es nur schaffen, eine gute Balance aus Neuem (Wir übernehmen ab hier!) und Bewährtem (Scholz kann Krise!) zu halten. Das ist schwer, aber nicht unmöglich.

GRÜNE

Bei den GRÜNEN lassen sich die Chancen & Risiken weniger klar sortieren.

Eine gerade veröffentlichte Studie der Konrad Adenauer Stiftung bescheinigt den GRÜNEN, dass sie von allen Parteien am stärksten die Emotionen Hoffnung und Zuversicht auslöst. Etwas, das viele WählerInnen in Szenario 1 fühle oder sich danach sehnen werden und etwas, für das die GRÜNE Politik in der Sache auch konkret stehen kann.

Es gibt aber auch ein bisher eher unterbelichtetes Risiko für die GRÜNEN am emotionalen Abschluss der Pandemie: Wenn die Themen Umwelt & Klima nur als die nächsten schrillen Warnungen wahrgenommen werden, die uns die nächste Kraftanstrengung abverlangen, könnten sich viele davon abwenden. Das ist kommunikativ ein lösbares Problem, aber keines, das von allen GRÜNEN Akteuren verstanden oder eingesehen wird.

Das ist auch nur logisch. Der Klimawandel ist auf der Sachebene nun mal eine drängende große Gefahr. Und genau diese Botschaft erzählt man ja seit Jahren. Die GRÜNE Begründung für einen politischen Aufbruch liegt bisher in der Warnung vor den drohenden Gefahren. Im ersten Szenario den richtigen Ton zu treffen, den Aufbruch schlauer zu begründen als mit dem Abwenden der nächsten Katastrophe, wird damit die große Herausforderung der GRÜNEN sein.

Das Risiko der GRÜNEN im zweiten Szenario ist offensichtlich: Sie haben den Kurs der Regierung bis hier hin gestützt und vor Kritik immunisiert. Zeitweise stärker als die SPD selbst. Wann wird mit dieser Linie gebrochen, wenn die Pandemie anhält und Fehler offensichtlich werden? Und was bedeutet dieser Bruch für das Verhältnis zur CDU?

Im zweiten Szenario bietet sich den GRÜNEN dafür eine sehr einfache, aber mächtige Erzählung an: Wer an Corona scheitert, wird auch den Klimawandel nicht aufhalten können. Um beides zu bewältigen, braucht es eine neue Kraft in der Regierung – und da ist neben den GRÜNEN niemand in Sicht.

FDP

Ich sehe nicht, was die FDP im ersten Szenario gewinnen kann. Es böte sich kommunikativ mehr Raum für Themen, die der FDP liegen. Aber das gilt für alle anderen Parteien auch.

Auf der anderen Seite gibt es im ersten Szenario eine CDU, die offenbar agil genug ist, um die größte Krise des letzten Jahrhunderts zu managen und danach langsam die Freiheit in der Republik wieder belebt. Das sind die beiden wichtigsten Angriffspunkte der FDP im bürgerlichen Lager und beide würden ausfallen.

Das wäre umgekehrt im zweiten Szenario die Chance der FDP. Sie könnte eine bürgerliche Alternative zum Corona-Management der CDU formulieren (schneller gemanagt, differenzierter um mehr Freiheit zu ermöglichen) und darüber Stimmen ziehen. Die FDP ist schon einmal gegen eine zu behäbige Große Koalition angetreten und danach in einer schwarz-gelben Regierung gelandet.

Dazu müsste die FDP aber mal eine klare Linie (überhaupt: irgendetwas Klares und Verlässliches) zum Umgang mit der Krisenpolitik der Bundesregierung finden. Momentan traut ihr das wohl niemand zu.

Linkspartei

Die Analogien zu Babylon Berlin drängen sich auf: Parties werfen könnte die Linke!

Die viel größere Chance für die Partei DIE LINKE läge aber darin, die erfolgreichen und nicht so erfolgreichen Anstrengungen gegen das Virus im Sozialstaat zu begründen. Was haben wir privatisiert, was uns Nachteile in der Pandemie gebracht hat? Was hat der Sozialstaat geleistet, um uns besser als andere durch die Krise zu bringen? Und um nicht nur alte Schlachten zu schlagen, was folgert daraus für die Zukunft?

Die Abgrenzung zur SPD wäre aber enorm schwierig. Wenn es mit dem Sozialstaat einer SPD in einer GroKo auch irgendwie klappt, wie viel besser liefe es dann noch mit einer Linkspartei in der Regierung?

Wenn die Pandemie weiter die sozioökonomische Spaltung treibt, wird im zweiten Szenario immer stärker sichtbar, wo der Staat keinen sozialen Ausgleich schafft. Entweder weil der Staat es nicht kann oder weil es politisch nicht gewollt ist. Beide Stellen kann die Linkspartei glaubhaft beleuchten und politische Lösungen anbieten.

Auf der anderen Seite ist die Linkspartei nicht gerade pragmatisch und wird dafür auch nicht gewählt. Mit ihrer Wahl verknüpft sich neben dem Aspekt eines starken Staates, die Hoffnung auf einen größeren Umbruch, einer größeren Vision. In einer akuten Krise fehlt vielen im Alltag dafür das Vorstellungsvermögen und bei all den naheliegenden Problemen wahrscheinlich auch das Verständnis. Damit ginge eine mögliche Attraktivität der Linkspartei im zweiten Szenario verloren.

Die Corona-bedingte Ausgangslage zur Bundestagswahl

Für FDP und Linkspartei bieten sich nur im zweiten Szenario Chancen um etwas in Bewegung zu bringen – und beide brauchen für eine erfolgreiche Bundestagswahl noch Bewegung.

Die GRÜNEN können im ersten Szenario am stärksten profitieren. Aber nur, wenn sie den richtigen Ton treffen. Und genau dort liegt das größte Risiko.

Für die SPD wäre das erste Szenario komfortabel, ein neutraler Grund für eine Kampagne. Das zweite Szenario könnte mehr Bewegung in die Wahl bringen. Aber in beide Richtungen.

Die CDU braucht das erste Szenario oder Markus Söder.

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Von Frédéric Ranft

Ich gestalte Kommunikation.

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